"Wenn es so ist, dass wir nur einen kleinen Teil von dem leben können, was in uns ist,
was geschieht dann mit dem Rest?"
(Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon)
Es ist ein komisches Gefühl, wenn ein Ziel, dass man jahrelang gehabt hat, irgendwann aufhört, sich erstrebenswert anzufühlen. Ich kann es nicht an einer einzelnen Sache festmachen, warum. Aber eine Teilnahme an den olympischen Spielen hat irgendwann in den letzten Monaten aufgehört, mein Lebenstraum zu sein. Vielleicht vor allem deshalb, weil ich in den Sommermonaten, die ich (fast) ohne Training verbracht habe, plötzlich festgestellt habe, dass es da draußen ein ganz anderes, buntes Leben gibt. Vielleicht, weil ich realisiert habe, dass es nur gelingen kann, wenn ich für ein, zwei Jahre zur Vollzeitathletin werde und es mir dieses Opfer nicht wert ist. Trotzdem fühle ich mich seltsam leer in den Tagen, nachdem ich meine Rücktrittserklärung an den DRV und die NADA verschickt habe.
Manchmal beschleicht mich der Gedanke, dass ich mein bisheriges Leben einfach unüberlegt weggegeben habe. Und das, obwohl ich weiß, dass ich mir selten etwas so gut und gründlich überlegt habe wie meine Entscheidung, nach Newcastle zu gehen.
Ich wünsche mir trotz allem nichts mehr, als den Spaß am Rudern wiederzuentdecken. Mit einem Team an einem Strang zu ziehen. Vielleicht, so denke ich, können die anderen Mädels noch etwas von mir lernen. Das Training am Newcastle University Boat Club ist völlig anders, als alles, was ich gewohnt bin. Wir trainieren fast jeden Tag zweimal. Morgens um 7 und nachmittags oder abends, je nachdem, wann die Vorlesungen zu Ende sind. Der Dienstag ist der härteste Tag: morgens dynamic weights. 60 Leute die eine Stunde lang im Gleichtakt Gewichte heben. Nachmittags intensive Ausdauer auf dem Ergometer. Musik ist bei keiner der Trainingseinheiten erlaubt. Oft genug habe ich an diesem Tag Vorlesungen von 9 bis 18 Uhr. Manchmal steige ich viel früher als geplant vom Ergo, weil ich Bauchschmerzen habe.
Wir sind dazu angehalten, jede Trainingseinheit zusammen zu machen, selbst wenn es nur Radfahren ist. Auch wenn mir die Trainer den einen oder anderen Freiraum erlauben, habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich das nicht mache. Ich will doch ein Vorbild für die anderen Mädels sein.
Die 40-köpfige Gruppe besteht überwiegend aus 19, 20-jährigen Engländerinnen. Ich habe mich selten in meinem Leben so fremd gefühlt und es überrascht mich. Das hier ist doch Europa, und ich spreche ihre Sprache. Und doch prallen Welten aufeinander, wenn wir zusammenstehen und sie reden darüber, in welchem Club sie heute Abend feiern gehen, wer gerade mit wem zusammen ist und wer was auf Instagram gepostet hat. Ich diskutiere abends mit Tobi die Hochzeitsplanung und schreibe Bewerbungen.
Manchmal fällt einem wohl auch erst im Rückblick auf, in was für einer glücklichen Situation man einmal gelebt hat. Ich war noch nie der fleischgewordene Mainstream, wahrscheinlich hätte ich auch mit 19 nicht so recht in diese Gruppe gepasst. Eine der wenigen Gruppen, zu denen ich mich je richtig zugehörig gefühlt habe - und das von Anfang an - war mein Team auf der Arbeit. Da war nämlich jeder anders, und genau das war die Stärke des Teams. Jeder war ein Spezialist auf seinem Gebiet, eine einzigartige Persönlichkeit. Mann, Frau, Jung, Alt, spanisch, deutsch, französisch. Egal. Und jeder hilft jedem mit dem, was ihn besonders macht. Ich habe an meinem letzten Arbeitstag jedem meiner Kollegen eine Karte geschrieben. Jeder hat eine andere bekommen. Ich hätte nach vier Jahren mit all diesen besonderen Menschen unmöglich jedem das selbe schenken können.
Im Leistungssport ist eine gewisse Austauschbarkeit gewünscht. Für die Entscheidungsträger im Spitzensport schrumpft die gesamte Persönlichkeit eines Athleten oft genug auf eine einzelne Zahl, eine Weite, Höhe, Geschwindigkeit zusammen.
Drei Regatten bin ich mitgefahren: das BUCS Small Boats Head in Boston, das Fours' Head in London und das Rutherford Head. Für Fours- und Rutherford Head haben wir einen Doppelvierer, der richtig gut funktioniert. Aus London kommen wir mit Silber nach Hause, Rutherford können wir gar mit deutlichem Abstand gewinnen. Ich sitze auf Schlag und es ist, als würde mein Kopf einfach nur ein Programm laden und abspielen. Ich rudere schnell, weil ich einfach weiß, wie es geht. Da ist nicht der Wille, zu kämpfen oder zu gewinnen. Es ist einfach Konzentration auf das, was zu tun ist.
Während wir mit gerade mal zwei Booten in London sind, fährt der Rest der Mädels zu Hause ein Ranking aus. Es geht darum, wer für das Rutherford Head im ersten, zweiten, dritten oder gar vierten Achter mitfährt. Die Mädchen geben ihr Bestes, um im ersten Boot zu sitzen. Für mich sind die Regatten hier aus sportlicher Perspektive völlig bedeutungslos. Ich habe sechzehn Jahre meines Lebens nur geskullt. Das Wochenende vor dem Rutherford Head bin ich in Deutschland um Tobi zu seiner Doktorprüfung begleiten zu können.
Mein Trainer setzt mich in den ersten Achter.
Beim Briefing sagt er, wir sollen das Rennen nicht für uns fahren, sondern für all die vielen Zuschauer, die unserem Lokalderby beiwohnen und den Club unterstützen. Dass wir das beste sind, was der Club zu bieten hat und dass jeder, der sich diesem Druck nicht gewachsen fühlt, nicht in diesem Achter sitzen sollte. Ich würde am liebten sagen: "Okay, ich geh dann mal. Gib meinen Sitz jemandem, der ihn haben will." Zwei Stunden vor dem Rennen ist es dafür freilich zu spät.
Wir müssen etwa eine Stunde auf dem Wasser auf unseren Start warten. Es ist 4 Grad kalt und ein eisiger Wind weht. Als wir schließlich starten, wünsche ich mir nichts sehnlicher als in meinem warmen Bett zu liegen. Hier kann ich kein Programm ablaufen lassen. Ich muss jeden Schlag versuchen, vernünftig zu rudern. Ich habe keine Idee davon, wie sich "richtig" beim Riemenrudern anfühlt. Im Vergleich zum Skullen fühlt sich der Schlag unglaublich kurz an, ich habe nie das Gefühl, richtig hinter dem Blatt zu hängen. Das Boot wackelt, es gibt einige Schläge in denen ich mein Blatt gar nicht erst ins Wasser bekomme. Ich habe das Gefühl, dass ich mich vor all den Anwesenden gerade bis auf die Knochen blamiere.
In der folgenden Woche bin ich krank. Ich beschließe, die Zeit zu nutzen und mache einen Termin mit Gary, dem Sportpsychologen der Newcastle University. Ich erhoffe mir einen objektiven Blick auf das, was da in meinem Kopf passiert und was ich selbst nicht so recht glauben mag: Ich will nicht mehr rudern. Oder, wie der Psychologe es ausdrückt: würde man ein Pro- und Contraliste mit allem machen, was bei mir diesbezüglich im Kopf herumschwirrt, dann gibt es einfach sehr viel mehr Argumente, die gegen die Fortführung des Leistungssports sprechen, als Argumente die dafür sprechen.
Was hält mich zurück? Nun, dieses seltsame Gefühl, meine Identität herzugeben. Wenn mich die Leute fragen: "wer bist du?", was werde ich antworten? Das herauszufinden, so Gary, wird wohl eine Weile dauern. Aber das ist ganz normal.
Und so bringe ich den Mut auf, mich dazu zu entscheiden, das Rudern an den Nagel zu hängen, zumindest so lange ich nicht die Möglichkeit habe, es wirklich ohne Druck von außen nur so zum Spaß auszuüben. Erleichtert verlasse ich Garys Büro. Ein Gedanke schießt durch meinen Kopf: Heute ist der erste Tag vom Rest meines Lebens!
Meine Mitbewohnerin fragt mich, was ich denn nun machen möchte. Ich sage ihr, ich würde so gerne noch richtig Gitarre spielen lernen. Am liebsten würde ich das Instrument nach Weihnachten einfach vom Dachboden meiner Schwiegereltern holen und mit nach Newcastle bringen. Aber nach all den Horrorstorys, die ich schon von Instrumenten im Flugzeug-Frachtraum gehört habe, traue ich mich nicht. Ral geht in ihr Zimmer und kommt kurze Zeit später mit einer etwas eingestaubten Gitarre zurück. Eine ihrer früheren Mitbewohnerinnen hat sie in Newcastle zurückgelassen, seit dem steht sie unbenutzt herum. Außerdem wird Ral einen Kollegen fragen, ob er mir nach der Klausurenphase Gitarrenunterricht geben kann. Ich platze beinahe vor Glück. Seitdem spiele ich fast jeden Tag. Ich bin erstaunt, wie viel ich nach vielen Jahren Pause dann doch noch auf dem Instrument zustande bekomme. Und ich mache bescheidene Fortschritte.
Es fühlt sich an wie Urlaub. In den ersten paar Wochen schlafe ich teilweise bis um 8 Uhr. Dann setze ich mich in aller Ruhe an meinen Schreitisch und lerne: State Space, Ziegler-Nichols-Tuning, Z-Transforms. Ich sauge das Wissen in mir auf und freue mich jedes Mal, wenn ich endlich etwas verstanden habe. Ich habe Energie dazu, es ist kein "oh nein und nach dem Training muss ich aber wirklich noch lernen."
Ich bin wach. So sehr, dass ich glaube, ich habe einfach irgendwann im Laufe der letzten Jahre vergessen, was es bedeutet, richtig wach zu sein. Als hätte ich das Leben jahrelang nur durch eine trübe Glasscheibe gesehen, durch die alles unerreichbar, dumpf und grau wird.
Ich mache Sport. Radfahren, Schwimmen, Yoga, Pilates, Crosstrainer. Ich nehme mir das vor. Morgens, oder ein paar Tage vorher. Trotzdem passiert es einfach nicht, dass ich das Gefühl habe: och nööö… ich will nicht.
Ich schnappe mir mein Fahrrad und fahre ans Meer. Ich bin nicht schnell. Überhaupt nicht. Für die 36km hin und zurück brauche ich fast 2 Stunden. Ich bin trotzdem stolz auf mich, als ich wieder zu Hause bin. Ich habe das Gefühl, an einem durchschnittlichen Sonntag mit unterdurchschnittlichem Wetter trotzdem etwas außergewöhnliches getan zu haben.
Manchmal vermisse ich es trotzdem schrecklich, mich ins Boot zu setzen, den Wind um die Nase zu spüren, dem Rauschen des Wassers unter dem Rumpf zu lauschen. Aber rudern scheint in all den umliegenden Vereinen nur als Wettkampfsport, zwar mit unterschiedlichen Abstufungen in der Intensität, aber doch immer mit einer gewissen Erwartungshaltung verknüpft, zu existieren.
Es ist der 18. Dezember 2017. Ich gehe mit offenen Augen durch die Stadt, genieße das Licht, das die winterliche Sonne auf die Häuser, den Tyne und die Brücken wirft. Ich bin bezaubert von so einfachen Dingen wie dem tollen Türkisblau eines ansonsten recht hässliche Graffito an einer Hauswand im Hafen. Ironischerweise habe genau an diesem Morgen, einen Tag bevor ich zu Weihnachten nach Hause fliege, das Gefühl, angekommen zu sein. Das hier ist mein Leben und ich halte es in meinen Händen und kann damit tun, was ich will. Mir ist klar geworden, dass ich mehr sein möchte als eine gute Ruderin.
Ich bin dankbar. Dankbar, dass mich das Rudern über weite Strecken meines Lebens begleitet hat. Dankbar für all die Menschen, die es in mein Leben gebracht hat. Von denen viele, so durfte ich in den letzten Monaten erleichtert feststellen, in mir doch auch andere Dinge als die gute Ruderin zu sehen scheinen. Ich bin dankbar, dass ich mich in vielen Facetten selbst kennenlernen durfte. Dankbar für Sonnenaufgänge über spiegelglattem Wasser und für dieses einzigartige Gefühl, wenn das Boot "klickt" und jeder intuitiv weiß, was er zu tun hat.
Und ich bin dankbar, all das loslassen zu können und Raum für Neues zu gewinnen.
Möglicherweise ist Rudern das, was ich bisher am besten konnte.
Aber ich kann immer noch alles andere lernen.